Hautkontakt mit Herjolfsnes
Geschrieben in Nähen am 15.02.2016 von Eva-Maria
Wie versprochen möchte ich euch mein Arbeiterinnenkleid vorstellen. Es basiert auf dem grönländischen Fund "No 39" aus Herjolfsnes, ist aber keine genaue Rekonstruktion. Die offensichtlichsten Unterschiede sind die langen Ärmel sowie die Ausschnittgestaltung, als kleinere Unterschiede habe ich keine Scheinnaht in der Seite verwendet sondern zwei Einzelteile zusammengenäht und auch die Art der Versäuberung an Ausschnitt und Saum weicht vom Fund ab. Passend ist jedoch die Webart - 2/2 Köper mit 10 Fäden/cm aus zwei naturbraunen ungefärbten Wollfäden, die in einigen Herjolfsnesfunden nachgewiesen wurden - und die Art, wie die Ärmel eingesetzt wurden (zuerst zusammengenäht und danach mit der Gere vom mittleren Seitenteil ausgehend rückwärts eingesetzt). Ich habe allerdings mit Leinenfaden anstelle von Wolle genäht.
Außen Pfui, innen Hui.
Auf den ersten Blick sieht das Kleid nicht nach viel Aufwand aus. Es ist figurnah, kann aber noch leicht über die Brust gezogen werden und benötigt daher keinen Verschluss. Auch die Ärmel sind nur bis über den halben Unterarm geknöpft. Eigentlich ist das Kleid damit ein durchaus plausibles Kleidungsstück für eine Bäuerin / arbeitende Frau, das weder besonders modisch noch besonders hochwertig ist und vom Spinnen über das Weben bis hin zu den Näharbeiten komplett in Heimarbeit entstanden sein könnte. Was mich allerdings überrascht hat, war der Zeitaufwand von 34 Stunden, der nur für die Näharbeiten anfiel. In diesem Zusammenhang möchte ich euch gerne den Blogpost von Eve Fischer "The $3500 Shirt - A History Lesson in Economics" ans Herz legen, die über den monetären Wert eines einzelnen Hemdes referiert. Hier jedenfalls ist meine Aufstellung der Minuten, die in die Näharbeiten des Herjolfsnes-Kleides flossen.
Arbeit
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Minuten
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Anpassung des Schnittmusters & Zuschnitt
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150
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Nähen (inkl. Ausschnitt- & Ärmelversäuberung sowie Saum)
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955
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Versäubern der Nähte
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700
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8 Stoffknöpfe herstellen & annähen
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75
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8 Knopflöcher versäubern
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160
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SUMME Arbeitsaufwand (real)
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2040
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Was sind die größten Zeitfresser?
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Saum versäubern
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160
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Knopflöcher nähen (8 Stk.)
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160
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Ausschnitt versäubern
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110
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Wo hätte ich Zeit einsparen können?
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Ärmel waren zu lang und mussten gekürzt werden
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- 35
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Seitennähte waren zu weit und mussten angepasst werden
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- 20
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Falls ich die Knopflöcher grober eingefasst hätte, hätte ich sicher auch hier Zeit einsparen können.
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- 70
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MÖGLICHE Ersparnis (geschätzt)
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- 125
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Minimum Nähzeit (optimiert)
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1915
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minimale Nähzeit in Stunden
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32
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Fazit: Ich verstehe jetzt besser, warum Kleidung im Mittelalter derart wertgeschätzt und umgenäht, repariert und gehütet wurde. Und warum immer wieder Kleidungsstücke in Testamenten auftauchen.