Zwei Liebende unter einem Baum / Two lovers under a tree

Geschrieben in Sticken am 22.01.2022 von Eva-Maria

Als ich vor 5 Jahren die Arbeit an der zweiten Seite eines Almosenbeutels nach einem Original aus dem Met Museum (Accession Number: 27.48.3) begonnen habe, dachte ich nicht, dass es so lange dauern würde, das Motiv fertig zu sticken. "Gut Ding will Weile haben" sagt zwar ein altes Sprichwort, aber ich bin selbst überrascht, auf wie viele Jahre sich die Arbeit schlussendlich verteilt hat. Und sie ist bei Weitem noch nicht zu Ende - schließlich soll aus der Minneszene, gemeinsam mit den bereits früher gestickten goldgefüllten Fabelwesen, ja noch ein richtiger Almosenbeutel werden. Diese Pläne müssen noch etwas warten, jetzt zeige ich euch erst einmal die fertige Stickerei zweier Liebender unter einem Baum. 

5 years ago, when I began the work on the second side of the alms pouch replica after an original purse exhibited in the  Met Museum (Accession Number: 27.48.3), I never thought it would take as long to finish the embroidery. I guess "Good things take time" is the appropriate proverb here. Anyway, the work is still far from finished, as I still have to assemble this courtly scene with its counterpart of gold-filled creatures to make a useable alms pouch. These plans have to wait a bit though, while I show you the recently finished embroidery of two lovers under a tree. 

Zuerst habe ich den Hintergrund und Teile der Figuren und der Blüten mit Ziegelstich gefüllt. Dafür verwendete ich pflanzlich gefärbte echte Seidenfäden und habe mich bei der Farbauswahl und -zuteilung soweit möglich an das Original gehalten.

In a first step, the background and parts of the figures and flowers were filled with brick stitch embroidery. I used plant-dyed real silk threads and stuck with color choices and allocations as close to the original as possible. 
Als nächstes wurden die Blüten mit Echtgoldfaden in oberflächlicher Anlegetechnik gefüllt. Was für eine zeitaufwendige Arbeit! 

Next, the flowers were filled with real gold threads in surface couching. What a time-consuming work!
Irgendwann war auch die letzte Blüte gefüllt und die Enden der Goldfäden sorgfältig vernäht.

Eventually all the flowers were filled and all the gold threads plunged and secured. 
Zeit, sich an die Figuren zu machen. Die Flächen wurden "geometrisch" gefüllt, d.h. die Goldfäden wurden vertikal nebeneinander angeheftet. Dabei bilden die Heftstiche aus farblich passender Seide ein Muster regelmäßiger schräger Linien.

Time to start working on the figures. The areas were filled with vertically applied gold threads, couched in place with color-matching silk thread. The couching stitches form a pattern of regularly spaced diagonal lines.
Anschließend war der Baum an der Reihe. Im Gegensatz zu den Figuren wurden die Äste "organisch" gefüllt, d.h. ich folgte mit dem Goldfaden den Konturen von außen nach innen. So sieht der Baum natürlicher aus. 

Next was the tree. Contrary to the figures, the branches were filled from the outside, following their contours. This makes the tree look more natural. 
Dann ging es an die Figur der Dame. In einer Facebook-Gruppe meinte eine Benutzerin, das Motiv erinnere sie stark an die "Cherry-Tree Carol", die sich um eine Geschichte der Jungfrau Maria, ihres Ehemanns dem Hl. Josef und einen Obstbaum dreht. Ich kann leider nicht sagen, ob diese Interpretation möglich ist, für mich war das bisher eine klassische Minneszene einer Dame und ihres Ritters, wie sie u.a. in der Codex Manesse zu sehen ist. Leider ist auch die Beschreibung des Museums nicht sonderlich hilfreich, hier wird lediglich von "2 figures under a tree" gesprochen. 

Last came the figure of the lady. A user in a facebook-group commented that the motiv reminded her strongly of the story of the "Cherry-Tree Carol", which revolves around the virgin Mary, her husband St. Joseph and a fruit tree. Myself I cannot tell if this interpretation might be correct, for me the scene was always a courtly one of a lady and her knight, like they can be found in the Codex Manesse. Unfortunately, the museum gives no further information to the original embroidery other than describing it as "2 figures under a tree".
Wie auch beim Original werden die Linien für das oberflächliche Anheften der Goldfäden nicht vorgezeichnet, sondern mithilfe des Hintergrundstoffs ausgezählt. Mein Leinen war leider nicht ganz so regelmäßig gewebt, das machte es etwas schwieriger gleichmäßige Abstände hinzubekommen.

Like in the original embroidery the lines for the surface couching of the gold threads are not drawn as pattern. Instead the intervalls between the stitches are counted using the background fabric as guide. Mine unfortunately was not as even-woven as required which made it more difficult to get an even result. 
Die fertige Stickerei misst 17 x 20 Zentimeter und ist eine interessante Kombination aus einer relativ einfachen Stickerei mit großen Ziegelstichen und dem großflächigen Einsatz von Echtgoldfaden. Das finde ich spannend und irgendwie bezeichnend für das Denken der mittelalterlichen Auftraggeber: "Seht her, was ich mir leisten kann!"

The finished embroidery measures 17 x 20 centimeters and is an interesting mix of simple brick stitch embroidery and a generous use of real gold threads. I reckon that's characteristic for the thinking of the medieval owner: "Look, what I can afford!"